Zur Geschichte der Wissenschaften und der Gelehrten, de Candolle
IV. Über den Einfluss der Vererbung, der Veränderlichkeit und der Auswahl auf die Entwicklung des Menschengeschlechtes und die wahrscheinliche Zukunft desselben
Fünfter Teil. Ist es wahrscheinlich, dass die Kultur völlig untergehen kann?
So beruht die Kultur großenteils auf dem Privateigentum, das eine andauernde Ursache der Tätigkeit ist, und wir sehen, daß dieses in manchen Ländern durch die Steuern mehr und mehr reduziert wird. Es gibt in der Schweiz und in Italien Städte, in denen die als reich angesehenen Besitzer 30, 40-50% ihrer Einnahmen für allgemeine und Ortssteuern hergeben müssen. Die Kriege, die vom Staate ausgeführten öffentlichen Arbeiten, die Gehälter zahlreicher Angestellter und ihre Verzettelung öffentlicher Gelder bewirken, zusammen mit der Leichtigkeit, Steuern auszuschreiben, daß die Besitzenden nichts mehr als Verwalter von Kapitalien sind, deren Produkte ihnen nur teilweise gehören, während der andere Teil für beständig wachsende Ausgaben in Anspruch genommen wird. Zweifellos entzieht man sich diesen um so mehr, je schwerer, ungerechter und ungeschickter sie sind, aber die Entmutigung, die aus diesen Lasten folgt, widersetzt sich dem Fortschritt. Auch bemächtigt sich der Staat einer Unzahl von Rechten, wodurch die persönliche
Tätigkeit und Verantwortlichkeit noch mehr vermindert wird. Die persönliche Freiheit wird stark beeinträchtigt durch den allgemeinen Militärdienst, der in den europäischen Ländern mehr und mehr eingeführt wird. Die Spezialisierung der Funktionen, mit anderen Worten die Arbeitsteilung, die gleichfalls eine Grundlage aller Kultur ist, wird durch die gleichförmige Erziehung und die demokratischen Institutionen beeinträchtigt, bei denen man voraussetzt, daß ein jeder Mensch in gleicher Weise zum Wähler, Geschworenen oder Soldaten brauchbar ist, wie ein jeder andere. Bei einigen sehr demokratischen Völkern sieht man auch die Sitte sich entwickeln, daß man den Beruf ebenso schnell wechselt, wie man seine Kleider wechselt. Da wird ein Advokat General oder Lehrer, ein Kohlenarbeiter wird Eisenbahndirektor oder Gouverneur eines Staates. Die orientalischen Fürsten ernennen zuweilen ihre Köche oder Barbiere zu Ministern. Aber niemals hat man dies als einen Kulturfortschritt angesehen. Die Demokratie zielt auf die Gleichförmigkeit ab. Ist sie einmal ordentlich eingeführt, so triumphiert diese. Gleichförmigkeit aber bedeutet gemäß den Tatsachen in allen Gebieten der Naturwissenschaft nichts als Inferiorität. Die ansteigende Entwicklung geht von der Gleichheit zur Verschiedenheit; die retrograde von der Verschiedenheit zur Gleichheit (Die detaillierten Beweise hierfür finden sich bei Delaunay, Revue scientifique 20. Mai 1882.)
). Der intellektuelle und moralische Reichtum einer Nation besteht, wie G a 1 t o n (Galton, Inquiries into human faculties, S. 3.) dargelegt hat, insbesondere in der äußersten Verschiedenheit der Eigenschaften ihrer Angehörigen, und daher ist die Angleichung aller einzelnen an einen einzigen Typus das Gegenteil einer Verbesserung.
Die Kraft der Tatsachen, sagen die Optimisten, verbessert diesen Nachteil. Ich kann aber nicht erkennen, daß die Tatsachen diese Hoffnung rechtfertigen. Die Länder, welche das System der Staatsallmacht, die steigenden Steuern, den allgemeinen Militärdienst, die gleichförmige Erziehung, die vorausgesetzte Eignung eines jeden für jedes angenommen haben, kommen hiervon nicht zurück. Sie gehen vielmehr auf demselben Wege weiter. Was beruhigend wirkt, wenn man sich auf einen allgemeinen Standpunkt erhebt, ist, daß die bedauerlichen Tendenzen, von denen eben die Rede war, nicht allgemein sind. Es gibt nicht mehr, wie zur Zeit der Römer, nur eine einzige Kultur, sondern deren mehrere, die untereinander in Wettbewerb stehen, und entgegengesetzte Fehler und Vorzüge haben. Wenn dieses Land sich der Barbarei nähert, so kann jenes den umgekehrten Weg verfolgen. Die Völker des europäischen Kontinents leiden gegenwärtig unter den angegebenen üblen Tendenzen, aber England und die Vereinigten Staaten haben eine andere Organisation und andere Sitten.
Die persönliche Freiheit ist dort für die Männer zwischen 20 und 40 Jahren absolut. Die Spezialisierung der Funktionen und Professionen ist in England sehr groß, und in Amerika ist die Tendenz, das persönliche Eigentum zu absorbieren, beim Staate sehr schwach, da dieser sich beeilt, seine Schulden zu bezahlen, und die Steuern zu vermindern, jedesmal, wenn auf einen Krieg der Friede folgt. Australien läßt bereits besondere Dispositionen erkennen, welche weder englisch, noch amerikanisch sind.
Dieses Gesamtbild aller Kulturen, der lateinischen, deutschen, slavischen, englischen, amerikanischen, australischen, gewährt ein schönes Schauspiel und ein beruhigendes dazu. Jede von ihnen hat gewisse Fehler, aber auch wieder andere Vorzüge. Daraus folgt, daß, wenn die eine oder andere von ihnen unterliegt, die anderen dafür eine große Entwicklung erfahren können. Die Vereinigten Staaten von Amerika geben dafür bereits einen Beweis.